Die Fluchtgefahr ist einer der bedeutendsten Haftgründe im österreichischen Strafrecht und spielt insbesondere bei der Anordnung von Untersuchungshaft eine zentrale Rolle. Ihre Beurteilung erfolgt anhand klarer gesetzlicher Kriterien, ergänzt durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.
Begriff und gesetzliche Grundlage
Gemäß § 173 Abs. 2 Z 1 StPO liegt Fluchtgefahr vor, wenn aufgrund konkreter Umstände die Besorgnis besteht, dass sich ein Beschuldigter – etwa wegen der zu erwartenden Strafe oder aus sonstigen Motiven – dem Strafverfahren durch Flucht entziehen könnte. Dabei genügt nicht bloßer Verdacht oder ein „ungutes Gefühl“: Die Annahme der Fluchtgefahr muss sich auf bestimmte Tatsachen stützen, die einen objektiven Rückschluss auf ein mögliches Untertauchen zulassen.
📌 Rechtsgrundlage: § 173 Abs. 2 Z 1 StPO
Ausschluss der Fluchtgefahr
Die Strafprozessordnung enthält auch eine wichtige Eingrenzung dieses Haftgrundes: Fluchtgefahr ist nicht anzunehmen, wenn:
- dem Beschuldigten nur eine Straftat mit einer Strafdrohung bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe zur Last gelegt wird,
- er in geordneten Lebensverhältnissen lebt und
- über einen festen Wohnsitz im Inland verfügt. Diese gesetzliche Vermutung entfällt jedoch, wenn konkrete Hinweise auf Fluchtvorbereitungen vorliegen.
📌 Rechtsgrundlage: § 173 Abs. 3 StPO
Maßstab gerichtlicher Prüfung
Die Beurteilung der Fluchtgefahr unterliegt der Kontrolle durch den Obersten Gerichtshof (OGH). Dieser prüft, ob die Haftanordnung auf objektiv nachvollziehbaren Tatsachen beruht und nicht willkürlich erfolgte. Als „bestimmte Tatsachen“ gelten sowohl äußere Lebensumstände (z.B. Auslandskontakte), als auch innere Faktoren, etwa Persönlichkeitsmerkmale oder das Verhalten des Beschuldigten in früheren Verfahren (RS0117806).
Entscheidungsrelevante Umstände
Für die Annahme von Fluchtgefahr können insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung sein:
- Fehlende soziale oder familiäre Bindungen in Österreich;
- Enge Beziehungen oder wirtschaftliche Verbindungen ins Ausland;
- Die Höhe der zu erwartenden Strafe;
- Hinweise auf Fluchtvorbereitungen (z. B. Kündigung der Wohnung, Kauf eines Flugtickets);
- Verhalten in früheren Strafverfahren, insbesondere Flucht oder Nichterscheinen vor Gericht (RS0097713).
Gelindere Mittel als vorrangige Maßnahme
Liegt ausschließlich Fluchtgefahr vor, muss gemäß § 180 StPO geprüft werden, ob durch gelindere Mittel – also mildere, weniger eingriffsintensive Maßnahmen – der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden kann. Solche Alternativen sind etwa:
- Leistung einer Kaution
- Bürgschaft durch eine vertrauenswürdige Person
- Ablegung von Gelöbnissen, sich jederzeit dem Verfahren zu stellen Bei geringfügigen Delikten (mit Strafdrohung bis zu fünf Jahren) ist die Anwendung gelinderer Mittel verpflichtend, sofern keine erschwerenden Umstände vorliegen.
📌 Rechtsgrundlage: § 180 StPO
Informationspflicht bei Flucht eines Untersuchungshäftlings
Kommt es zur Flucht eines in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten, bestehen besondere Verständigungspflichten:
- Das Opfer ist auf Antrag unverzüglich zu informieren, sowohl über die Flucht als auch über eine allfällige Wiederergreifung.
- Die Staatsanwaltschaft ist durch die Justizanstalt sofort zu benachrichtigen, damit notwendige Schritte eingeleitet werden können.
📌 Rechtsgrundlage: § 181a StPO
Fazit
Die Fluchtgefahr ist ein sensibler und stark eingriffsintensiver Haftgrund, der ausschließlich bei Vorliegen konkreter Tatsachen angenommen werden darf. Gleichzeitig hat das Gesetz klare Grenzen gesetzt und sieht mildere Alternativen zur Untersuchungshaft vor, wenn keine Fluchtvorbereitungen vorliegen und der Tatvorwurf weniger gravierend ist. Die gerichtliche Prüfung erfolgt dabei mit hoher Sorgfalt, stets unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Freiheitsrechts des Einzelnen.